Show me your true colours – Leseprobe „Die Muse. Eine erotische Reise“

„Du siehst so blass aus“, sagte sie plötzlich besorgt. „Stimmt etwas nicht mit dir? Geht es dir nicht gut?“

„Nein, alles in Ordnung. Es ist nur … Ich habe ein wenig Kopfschmerzen. Mein Nacken ist verspannt. Eigentlich mein ganzer Körper. Zu viel sitzende Arbeit am Schreibtisch und viel zu wenig Bewegung an der frischen Luft in letzter Zeit, befürchte ich.“

„Oder vielleicht hast du heute einfach nur zu wenig gegessen. Ich ziehe mich rasch an, damit wir zum Abendessen ausgehen können.“

„Nein, bitte, das musst du nicht. Lass dir Zeit, ich habe wirklich noch keinen großen Hunger!“, sagte er. „Und du siehst so wunderschön aus in diesem Kimono“, fügte er hinzu, obwohl er seine Gedanken eigentlich gar nicht in Worte fassen wollte.

„Findest du?“, fragte sie. „Es ist eigentlich schon ein uraltes Ding, das ich so gut wie gar nicht mehr trage. Auch weil ich glaube, dass mir dieses kräftige Rot gar nicht so wirklich steht.“

„Es steht dir ausgezeichnet“, widersprach er ihr. „Es unterstreicht deine lebendige Persönlichkeit. Rot ist außerdem meine Lieblingsfarbe.“

„Wirklich? Das hätte ich so gar nicht vermutet. Du bist mir eigentlich immer wie ein Blau-Typ vorgekommen.“

„Wieso?“

„Du wirkst nach außen hin eigentlich so ruhig und verschlossen, kühl, unnahbar, zurückhaltend, ein bisschen schüchtern und entrückt, aber gleichzeitig auch kreativ und kommunikativ. Solche Menschen fühlen sich eher von Blau angesprochen. Oder auch von Grün.“

„Was ist deine Lieblingsfarbe?“, wollte er von ihr wissen.

„Blau“, sagte sie augenzwinkernd.

Sie mussten beide lachen.

„Da sieht man wieder, was wir nach innen wirklich sind und was wir nach außen hin sein wollen“, philosophierte sie.

„Kreativ bist du ohne Zweifel. Aber ruhig und verschlossen oder gar schüchtern … Das passt so gar nicht zu dem Bild, das ich von dir habe!“

„Wie ich bereits sagte, die meisten spielen nach außen hin eine Rolle. Und manchmal spielen sie diese Rolle so gut, dass sie sich eine Zeit lang selber damit etwas vorspielen können. Manchmal sogar eine lange Zeit. Aber das wahre Ich lässt sich niemals ganz verdecken oder verändern. Irgendwann kommt es immer wieder zum Vorschein und will rausgelassen werden. Meist dann, wenn man es am wenigsten brauchen kann. Aber das ist wahrscheinlich ganz gut so.“

„Also deiner Theorie zufolge gehst du also davon aus, dass ich auch eine Rolle spiele …“

„Meiner Theorie zufolge, wenn Rot deine Lieblingsfarbe ist, muss ich davon ausgehen, dass du auch eine Rolle spielst. Allerdings nicht allzu gut, muss ich anmerken.“

„Wie meinst du das?“, fragte er irritiert.

„Deine Rolle ist noch nicht stimmig. Du musst noch an ihr arbeiten.“

„Ich denke nicht, dass ich eine Rolle spiele“, widersprach er ein wenig gekränkt.

„Doch, das tust du. Das tun wir doch im Grunde alle. Manche mehr oder weniger. Manche ganz bewusst, andere wieder unbewusst. Du machst es bewusst. Aber du würdest es selber niemals als eine Rolle spielen bezeichnen, sondern eher als eine Wand um dich errichten oder einen Schutzwall graben.“

„Das heißt du glaubst, dass ich den ruhigen, zurückhaltenden, kühlen Typen nur spiele und in meinem Innersten dann in Wahrheit – da ich ja Rot liebe – das genaue Gegenteil bin.“

„Genau. Ich glaube, dass du, was Emotionen angeht, ein brodelnder Vulkan bist. Ich spüre, dass du sehr leidenschaftlich, und temperamentvoll bist, dass du beide Eigenschaften aber bewusst im Zaum halten willst, weil du Leidenschaft und Gefühle als Schwäche auslegst, und du ein derart ehrgeiziger und zielstrebiger Mensch bist, dass du dir nicht erlaubst, vom dir geplanten Weg abzukommen, geschweige denn, dass du jemand anderem erlaubst, deine sogenannten Schwächen ausnutzen und dich dadurch von diesem Weg abbringen zu lassen.“

„Wenn du das sagst.“

„Nun, du hast dich mir ja anvertraut und mir einiges über dich verraten, deshalb ist manches für mich nicht mehr so schwer durchschaubar. Es ist vollkommen in Ordnung, zu sein, wie man ist. Es ist aber auch vollkommen in Ordnung, jemand anderer sein zu wollen und diese Rolle zu spielen. Wenn du dich damit wohler fühlst, dann tu das. Das Einzige, was mir ein wenig Sorge bereitet, ist, dass in dir auch eine gehörige Portion Wut schlummert. Dass sich diese Wut schon viele Jahre aufstaut. Irgendwann wird sie ausbrechen. Ich hoffe, das passiert eher früher als später, bevor sie zu gewaltig wird und nicht wieder gutzumachender Schaden angerichtet wird.“

„Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Das Einzige, was im Moment in mir brodelt, sind die Kopfschmerzen.“

„Das tut mir leid“, sagte Máirín. „Warte einen Augenblick, ich hole dir eine Kopfschmerztablette.“

Sie verschwand erneut im Badezimmer und war wenig später mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück.

„Hier. Ist ein Teufelszeug. Sollte in einer halben Stunde spätestens wirken. Ich habe nur sehr selten Kopfschmerzen, aber wenn, dann heftig. Und das ist das einzige Mittel, das mir dann hilft.“

Bernard schluckte die Tablette hinunter und lehnte sich entspannt zurück.

„Während wir warten, bis es dir besser geht, können wir ja ein wenig Musik hören. Zieh die Vorhänge zu, dreh das grelle Licht ab, und ich organisiere uns an der Rezeption ein paar Kerzen“, sagte sie und verließ das Zimmer.

Während sie unterwegs war, um die Kerzen zu holen, verdunkelte er das Zimmer und suchte nach einem Klassiksender. Dann ging er ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Das würde ihn vielleicht wieder ein wenig runterbringen. Hoffte er zumindest.

Máirín brauchte wesentlich länger als nur ein paar Minuten, aber nach etwas mehr als einer viertel Stunde war sie doch zurück, in der Hand eine Papiertüte mit dem Werbeaufdruck einer Drogerie.

„Natürlich hatten sie keine Kerzen an der Rezeption. Aber der nette junge Mann, der uns heute Morgen mit den Koffern geholfen hat, ist für mich in die Drogerie ums Eck gegangen und hat welche gekauft. Zusammen mit ein paar Kerzenhaltern und einer Flasche Massageöl. Und er hat sogar das richtige erwischt“, sagte sie, betrachtete die kleine Glasflasche und nahm dann auch die restlichen Sachen aus der Tüte.

Sie stellte je einen Kerzenhalter auf das kleine Nachtkästchen und auf den Tisch vor dem Fenster. Dann zündete sie die Kerzen an und setzte sich aufs Bett.

„Zieh dein Hemd aus und leg dich hin!“, forderte sie Bernard auf.

Er zögerte, wusste nicht recht, ob sie es ernst meinte oder ihn aufzog.

„Sieh mich nicht so entsetzt an“, sagte sie und lachte. „Ich will dir nichts Schlimmes antun, aber ich bin eine recht passable Masseuse, und vielleicht gelingt es mir ja, ein paar deiner Verspannungen wegzumassieren und so deine Kopfschmerzen zu lindern.“

Er zog das Hemd aus und setzte sich neben sie aufs Bett.

„Wie soll ich mich hinlegen?“, frage er unsicher.

„Am besten ganz flach auf den Bauch. Und die Arme seitlich wegstrecken“, wies sie ihn an. „Mach es dir gemütlich. Ich hole mir nur noch schnell eine Flasche Mineralwasser aus der Minibar. Und vielleicht einen kleinen Whisky zum Aufwärmen. Nach dem Regen hat es doch ziemlich abgekühlt.“

„Aber du musst das nicht für mich tun. Ich meine, warum solltest du auch?“, warf er ein.

„Mach dir keine Gedanken darüber. Ich weiß, dass ich das nicht tun muss, und ich mache prinzipiell nichts, was ich nicht auch tun will. Also entspann dich und genieße es einfach.“

Sie hatte gut reden, dachte er. Wie sollte er sich in dieser Situation entspannen? Die Frau, die er vor Kurzem nackt in der Wanne gesehen und die ihm in den letzten Tagen durch ihre bloße Anwesenheit und flüchtige Berührungen eine Erektion nach der anderen beschert hatte, würde ihm den Rücken massieren. Er glaubte nicht, dass er sich dabei wirklich entspannen konnte. Aber er würde sich bemühen. Das Ambiente, das sie im Zimmer geschaffen hatte, war zumindest danach.

Sie kniete sich neben ihm hin, öffnete das Fläschchen mit dem Massageöl und goss eine großzügige Menge davon auf ihren Handflächen, die sie zuvor angewärmt hatte. Langsam und ganz sanft begann sie ihre Massage an den Schultern.

Sie fühlte sofort, wie sehr er verspannt war, war sich aber nicht sicher, ob das nicht nur an der Situation lag. Sie an seiner Stelle wäre sicher auch verkrampft gewesen, versuchte sie sich in seine Lage zu versetzen. Sie war, wer sie war, Máirín O’Laughlin, die Romanautorin, und außerdem seine Lehrerin. Und er war nicht einer ihrer Spielgefährten, sondern ihr Schüler. Und zwanzig Jahre jünger als sie. Sie fand es ohnehin beeindruckend, dass er es gewagt hatte, sie an jenem Nachmittag letzte Woche um diesen Spaziergang zu bitten und am Abend darauf einfach so in ihr Zimmer zu spazieren, als wäre das das Natürlichste auf der Welt, als wären sie seit vielen Jahren die dicksten Freunde.

Aber genau das war es, was sie fühlte, wenn er bei ihr war. Dass sie jemanden an ihrer Seite hatte, den sie schon ihr halbes Leben kannte. Jemand, der ihr vollstes Vertrauen genoss und ihr Geheimnisse abrang, die sie niemandem sonst verraten hätte. Was an ihm es war, das das in ihr auslöste, wusste sie nicht, aber sie wusste, dass er ihr guttat, dass er gerade dabei war, ihr Leben zu verändern. Und zwar in einer Weise, die ihr außerordentlich gut gefiel. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Er war der Einzige, bei dem sie so sein konnte, wie sie wirklich war, weil sie wusste, dass er nicht über sie urteilte, sondern sie einfach so akzeptierte, wie sie war, und es schien, als würde ihm ihr wahres Wesen gefallen.

Die langsamen Bewegungen, mit denen sie ihn massierte, der Geruch des Massageöls und der Whisky, den sie nebenbei trank, versetzten sie in eine Art Trancezustand, und sie vergaß Raum und Zeit.

Erst als sie irgendwann einen Blick auf die Uhr warf, merkte sie, dass es beinahe Mitternacht war und sie ihn einige Stunden lang massiert hatte.

Sie hatten in all der Zeit kaum ein Wort miteinander gesprochen, genossen die Stille und mittlerweile fühlte sich sein Körper unter ihren Händen so weich und widerstandslos an, dass sie wusste, dass er nun wirklich vollständig entspannt war.

Sie nahm noch einen kräftigen Schluck von ihrem Whisky und forderte ihn danach auf, sich aufzusetzen.

„Ich möchte noch deinen Nacken und deine Arme massieren“, sagte sie. „Aber ich komme da besser ran, wenn du dich mit dem Rücken zu mir aufrecht hinsetzt.“

Er machte, was sie ihm aufgetragen hatte und setzte sich im Türkensitz vor sie auf das Bett.

Máirín kniete sich hinter ihn und legte ihre Hände auf seinen Nacken. Sie rieb sich noch mehr Öl auf die Handflächen und begann, ihn sanft zu massieren.

Sie liebte seinen Nacken. Er war perfekt geformt. Glatt und schlank. Sie mochte Männer mit allzu muskulösen, breiten Nacken nicht. Aber seiner sprach sie besonders an. Ihn zu berühren, verursachte ihr Gänsehaut.

Der intensive, süßliche Geruch des Massageöls stieg ihr zu Kopf, der Whisky hatte es längst getan. Der Anblick seines Nackens erregte sie, seine Haut zu berühren, verursachte ihr plötzlich Gänsehaut. Sie griff noch einmal nach dem Öl und fettete ihre Hände ein. Sie zögerte kurz. Dann schloss sie ihre Augen, sog den Duft des Öls tief ein und küsste ihn auf Nacken und Schultern. Gleichzeitig ließ sie ihre Hände zur Vorderseite seines Körpers wandern und begann, seine Brust zu massieren.

Sie hatte nicht vor, ihn zu verführen. Sie wollte nur seinen Duft in sich aufnehmen, ihn umarmen, mit ihrer Haut seine berühren, seine Brust und seinen Bauch streicheln, ihn alles um sie herum vergessen lassen. Wollte ihm die vollkommene Entspannung bieten. Dabei geriet sie immer mehr in Ekstase und bewegte sich dabei in Regionen vor, die sie eigentlich unberührt lassen wollte …

(„Die Muse. Eine erotische Reise“, Cara Roth, 2015)

Foto-Art by Josef Brodträger, Wien, Juli 2017

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In den Schuhen, die Du mir geschenkt hast – Leseprobe

Liebe Mama!

Draußen regnet es. Ein leichter Nieselregen. Doch obwohl es bereits Ende Oktober und noch sehr früh am Morgen ist, ist es nicht kalt. Oder ich habe nicht gespürt, dass es kalt ist. Die Eile, die ich hatte, hierher zu kommen, und die Nachricht, die mir die Krankenschwester am Telefon überbracht hat, sie haben mich alles um mich herum vergessen lassen.

Wie in Trance bin ich die Strecke hierher gefahren. Eine Strecke, die mir immer viel zu lange erschien, aber heute noch länger vorkam als all die Wochen davor, als ich Dich hier an Deinem Krankenbett besuchen kam.

Die Ampeln auf dem Weg hierher, sie schienen alle auf Rot zu sein. So als wollten sie mich davon abhalten, bei Dir anzukommen. Und auch der ohnehin schon endlos lange Gang vom Eingang des Spitals bis zu Deinem Zimmer im letzten Winkel der 2. Medizinischen Station schien heute kein Ende nehmen zu wollen. Ich fühlte mich in einen Roman von Kafka versetzt. Empfand es als so surreal.

Und nun stehe ich vor Dir, und es wird mir schlagartig klar, dass nichts unendlich ist auf dieser Welt. Kein Weg und schon gar kein Menschenleben. Noch nicht einmal die Welt selbst. Warum aber hoffen wir dann darauf, dass die Menschen, die wir lieben, immer für uns da sein werden? Weil wir das Unvermeidliche verdrängen, weil wir dem Tod in unserem Leben keinen Platz einräumen wollen?

Oder hatte ich so sehr gehofft, weil ich wusste, dass diesmal die Hoffnung alles war, was mir bleiben würde? Und jetzt, wo Du tot bist, gibt es denn da überhaupt noch etwas zu hoffen? Hat mein Leben denn dann überhaupt noch Sinn?

Du warst – gewollt oder ungewollt – der Fokus in meinem Leben. Deine Krankheit hat Dich ins Zentrum des Interesses gerückt, hat Dich zu einer Person gemacht, auf die sich alle Aufmerksamkeit richtete. Hat das Leben aller Familienmitglieder bestimmt.

So viel Angst, ein ganzer Fluss vergossener Tränen, so oft dem Tod so nah, und dann doch immer wieder der Sieg der Hoffnung.

Ein Happy End, so wie man es sich in jedem Film wünscht. Du hast nie aufgehört, zu kämpfen, hast immer gewonnen. Sieg um Sieg um Sieg errungen. Obwohl ich immer gezweifelt, obwohl ich immer befürchtet hatte, Du würdest verlieren. Immer hast Du mir gezeigt, wie stark Du warst, mir stets vorgelebt, dass man nie aufgeben darf, nie aufhören darf zu kämpfen.

Im Laufe der Jahre warst Du für mich zu einer Unbesiegbaren geworden. Egal, wie oft der Tod an Deine Tür geklopft hatte, Du hast sie ihm immer wieder vor der Nase zugeschlagen, und jeden noch so großen Stein, den man Dir vor die Füße warf, hast Du stets beiseite geräumt, wohl wissend, dass der nächste nicht lange auf sich warten lassen würde.

„Was dich nicht umbringt, macht dich stark!“, hast Du immer gesagt, und ich habe in meinem Leben nur wenige kennengelernt, die stärker waren als Du. Doch dieser Mythos Deiner Unbesiegbarkeit, den ich mir selber geschaffen hatte, er hat mich allzu zuversichtlich gemacht, mich in Sicherheit gewiegt, mir vorgegaukelt, dass Du auch diese Schlacht wieder gewinnen würdest. Wie immer.

Warum hast Du dem Tod diesmal erlaubt, Dich auszutricksen? Warst Du nicht auf ihn vorbereitet? Hast Du ihn diesmal nicht ernst genommen? Warum hast Du nicht gegen ihn gekämpft? So wie sonst auch. Wie konntest Du das nur zulassen?!

Ich möchte Dir all diese Vorwürfe an den Kopf werfen, Dich so lange mit ihnen quälen, bis Du die Augen endlich wieder öffnest und mir sagst, dass ich aufhören soll, Dich damit zu sekkieren, wie Du es mir in den letzten Monaten so oft gesagt hast.

Ich will Dich damit provozieren, will dass Du Dich mit mir streitest. Das hast Du doch so gerne gemacht, mit mir streiten. Hast mich oft in den Wahnsinn getrieben mit Deinen Sticheleien und Deinem Bedürfnis, alles lautstark ausdiskutieren zu wollen. Und jetzt, wo ich von mir aus dazu bereit bin, jetzt kneifst Du, gibst mir einfach keine Antwort. Gib mir eine Antwort! Ich verlange eine Antwort von Dir, die schuldest Du mir. Hab den Anstand und beantworte mir diese letzten Fragen! Bitte. Ich flehe Dich an.

Ich drücke Deine Hand so fest, wie ich mich nur traue, aber je länger ich sie festhalte, desto kälter wird sie. Diese Hand wird nie wieder auf einen Händedruck reagieren. Sie wird keine Briefe und keine Geburtstagskarten mehr schreiben, keine neuen Weintraubenstöcke mehr pflanzen und keinen Apfelstrudel mehr backen. Sie wird sich niemals wieder vor Ärger oder Schmerz zu einer Faust ballen oder liebevoll den Hund streicheln.

Diese letzten Fragen, die ich an Dich gerichtet habe, Du wirst sie mir nicht mehr beantworten, so sehr Du das vielleicht auch gerne tun würdest. Doch ein Blick in Dein Gesicht gibt mir eine sehr viel ausführlichere Antwort, als mir lieb ist. Ich habe einige auf ihrem Sterbebett begleitet, öfter und unverhoffter, als ich mir hätte vorstellen können, doch sie alle hatten im Tode letztendlich einen Gesichtsausdruck des Friedens oder zumindest der Akzeptanz. Aber Dein Gesichtsausdruck, er ist so völlig anders, er spiegelt Entsetzen und große Qualen wider. Wohl noch viel größere Angst und Schmerzen, als Du in den letzten Jahren und vor allem Monaten ohnehin ertragen musstest.

Die Krankenschwestern haben Deinen Kopf eingebunden, wohl um zu verbergen, dass Du mit weit aufgerissenem Mund gestorben bist. Mit einem letzten Schmerzensschrei, der so laut gewesen sein muss, dass er sich für alle Ewigkeit auf Dein Gesicht eingebrannt hat.

Der Tod ist in der Nacht gekommen. Doch wie immer hast Du Dich mit Händen und Füßen gegen ihn gewehrt. Du hast ihn längst hinter der Ecke lauern sehen, wie so oft, und sehr wahrscheinlich wusstest Du ganz genau, dass es diesmal der letzte Kampf sein würde, doch Du hast scheinbar nicht aufgeben wollen, hast so lange gegen ihn und die Schmerzen angekämpft, bis Du nicht mehr konntest.

Du warst alleine in dieser dunklen Nacht, ich war nicht an Deiner Seite, wie ich es hätte sein müssen. Ich wähnte Dich hier in guten Händen, hatte darauf vertraut, dass Du auch diese Runde gewinnen würdest. Du, die Unbesiegbare. Ich war nicht an Deiner Seite in dieser dunklen Nacht, weil ich darauf vertraut hatte, dass wie immer alles wieder gut werden würde. Eingelullt in grenzenlose Hoffnung und Zuversicht.

Die Antwort auf meine Fragen, ich kann sie in Deinem Gesicht ablesen. Du warst auf ihn vorbereitet, hast ihn kommen sehen und gegen ihn angekämpft, obwohl Du wusstest, dass Du diesmal verlieren würdest.

Der Tod, er hat nur mich ausgetrickst. Ich hatte ihn nicht auf meiner Liste, konnte ihn nicht hinter der Ecke lauern sehen so wie Du, wohl weil ich ihn nicht sehen wollte, und hätte ich ihn doch wahrgenommen, so hätte ich in ihm keinen ebenbürtigen Gegner erkannt, hätte ihn verhöhnt.

Wegen meiner Ignoranz musstest Du die letzten Stunden alleine verbringen, die Schmerzen ganz alleine ertragen. Just in diesen letzten Stunden war ich nicht an Deiner Seite, obwohl ich so viele schwere Momente mit Dir geteilt habe.

Es tut mir leid, Mama, ich habe mich hinters Licht führen lassen, ihn nicht ernst genommen, schon geplant, wie wir unser Leben nach Deiner Entlassung aus dem Spital organisieren werden. Ich, ein Mensch, der immer nur in der Gegenwart, nur gelegentlich in der Vergangenheit lebt, aber so gut wie nie an morgen denkt, habe im Geiste eine Zukunft geplant, die es nun nicht mehr geben wird, nie gegeben hat.

Gerne würde ich ihn zur Rede stellen, den Tod, ihn herausfordern, doch obwohl er immer unter uns ist, wird er mir diesen Wunsch wohl hier und heute nicht erfüllen.

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